
Föderalismus und Abitur: Wie vergleichbar sind schulische Leistungen durch Abschlussprüfungen?
5. Mai 2025
Das Abitur gilt in Deutschland als „Königsweg“ zur Universität oder Hochschule. Doch wie fair ist es wirklich, wenn Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Bundesländern am Ende mit der selben Abiturnote um Studienplätze konkurrieren – obwohl sie ganz unterschiedliche Prüfungen, Anforderungen und Rahmenbedingungen durchlaufen haben? Diese Frage wird seit Jahren hitzig diskutiert. Besonders kritisch betrachtet wird in diesem Zusammenhang der Numerus Clausus (NC), der für viele Studiengänge über die Zulassung entscheidet.
Was ist der Numerus Clausus – und warum gibt es ihn?

Der Numerus Clausus ist eine Zulassungsbeschränkung für Studiengänge mit hoher Nachfrage. Ein klassisches Beispiel ist Medizin. Da nicht alle Bewerber aufgenommen werden können, wird eine Auswahl nach Abiturnoten getroffen. Der NC ist also kein fester Wert, sondern ergibt sich aus Angebot und Nachfrage – je mehr Bewerbungen auf einen Studiengang eingehen, desto höher liegt der NC.
Die Idee dahinter: Die besten Abiturienten sollen bevorzugt aufgenommen werden. Das Problem dabei- der NC basiert auf Noten, die im föderalen Bildungssystem Deutschlands ganz unterschiedlich zustande kommen.
Ein Bildungssystem – 16 Versionen davon
Deutschland hat kein einheitliches Abitur. Stattdessen regelt jedes Bundesland selbstständig, wie das Abitur aufgebaut ist, welche Prüfungen abgelegt werden müssen und wie stark bestimmte Fächer gewichtet werden. Auch die Korrekturrichtlinien, Aufgabenstellungen und die Vorgaben für schriftliche und mündliche Prüfungen unterscheiden sich teilweise erheblich.
Beispiele aus der Praxis:
- Bayern und Baden-Württemberg: Sie gelten traditionell als Bundesländer mit einem anspruchsvollen Abitur. Es ist stark verschult, die Aufgaben sind eher klassisch-traditionell, der Erwartungshorizont hoch. Die Notenvergabe ist relativ streng.
- Berlin: Die Anforderungen sind laut diversen Bildungsstudien im Vergleich eher moderat. Schüler bekommen hier häufig bessere Abiturnoten bei vergleichbarer oder geringerer Leistungstiefe.
Hamburg vs. Sachsen: Laut einer Vergleichsstudie (IQB 2022) schnitten Schüler aus Sachsen in Mathematik und Naturwissenschaften deutlich besser ab als ihre Altersgenossen aus Hamburg – obwohl in beiden Fällen mit einem „Einser-Abi“ um Studienplätze konkurriert wird.
Warum ist das problematisch?
a) Noteninflation in manchen Bundesländern
Der Anteil an Einser-Abiturienten hat in den letzten Jahren bundesweit zugenommen – jedoch nicht überall gleich stark. Während in Thüringen oder Bayern etwa 25–30 % der Schüler eine 1 vor dem Komma erreichen, liegt der Anteil in Berlin oder Bremen teilweise bei über 40 %. Die Folge: Schüler aus Bundesländern mit „freundlicheren“ Notenvergaben haben oft einen Vorteil bei NC-Studiengängen – obwohl sie nicht unbedingt mehr oder besser gelernt haben.
b) Ungleiches Prüfungsniveau
Wenn Schüler in einem Bundesland z. B. in Mathematik deutlich schwierigere Aufgaben lösen müssen als in einem anderen, sind die erzielten Noten nicht vergleichbar. Die Schulnote verliert ihren objektiven Aussagewert, was den NC als Auswahlkriterium fragwürdig macht.
Unterschiede bei Prüfungsfächern und Leistungskursen
Ein weiterer Aspekt, der die Vergleichbarkeit der Abiturnoten erschwert, ist der unterschiedliche Grad an Wahlfreiheit bei der Fächerwahl – insbesondere bei den Leistungskursen und den Abiturprüfungen. In einigen Bundesländern können Schüler relativ frei entscheiden, welche Fächer sie in den Fokus rücken. In anderen hingegen sind bestimmte Prüfungsfächer und Kurskombinationen verbindlich vorgeschrieben.
In Nordrhein-Westfalen etwa können Schüler ihre beiden Leistungskurse (LKs) aus einem breiten Fächerkanon wählen – häufig auch ohne Einschränkung, ob es sich um ein sprachliches, gesellschaftliches oder naturwissenschaftliches Fach handelt. Auch die Abiturprüfungen können oft flexibel über Grund- und Leistungskurse hinweg zusammengestellt werden – so kann jemand z. B. Sport und Kunst als Leistungskurs wählen und sich in Mathe nur auf Grundkursniveau prüfen lassen.
In Bayern hingegen ist das System strenger geregelt. Die Wahlfreiheit ist hier deutlich eingeschränkt: Es gibt klare Vorgaben, welche Fächer schriftlich geprüft werden müssen – etwa Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache. Auch bei den Leistungserhebungen sind bestimmte Schwerpunktfächer vorgegeben. Wer also beispielsweise in Mathematik oder Naturwissenschaften weniger stark ist, hat nicht die Möglichkeit, diesen Bereich zu umgehen. Das Ergebnis: Schüler in Bayern sind oft gezwungen, Prüfungen auch in den Bereichen abzulegen, in denen sie nicht ihre Stärken haben– was potenziell zu schlechteren Durchschnittsnoten führt.

Ist der NC noch ein sinnvolles Steuerungsinstrument?
Der NC basiert auf einem Vergleich von Noten, nicht auf einem Vergleich von Leistung. In einem föderalen System mit so unterschiedlichen Anforderungen ist er daher als reines Auswahlkriterium nicht geeignet.
Der Numerus Clausus bevorzugt Schülerinnen und Schüler aus Bundesländern mit geringeren Anforderungen, da die dort erzielten Abiturnoten im Durchschnitt besser ausfallen und dadurch günstigere Zulassungschancen bieten. Leistungsstarke Abiturientinnen und Abiturienten aus Bundesländern mit höheren Ansprüchen werden durch den NC häufig benachteiligt, weil vergleichbar gute fachliche Leistungen dort zu schlechteren Noten führen können. Durch diese Kopplung von Schulnoten und regionalen Bewertungsmaßstäben wird die bereits vorhandene soziale und regionale Bildungsungleichheit weiter zementiert, da Kinder aus wirtschaftlich stärkeren Regionen mit besseren schulischen Förderangeboten tendenziell bessere Abiturnoten und damit höhere Chancen auf begehrte Studienplätze haben.
Gemeinsame Abiturprüfungen in Berlin und Brandenburg
Als erstes Länderpaar führten Berlin und Brandenburg im Schuljahr 2009/2010 in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik komplett identische Prüfungsaufgaben durch. Mit Beginn des Schuljahres 2011/2012 wurde der gemeinsame Prüfungskanon um die Fächer Biologie, Geografie und alle weiteren Fremdsprachen erweitert. Seit dem Prüfungsjahr 2014/2015 gehören zudem Chemie, Physik und Geschichte zum Pflichtumfang der länderübergreifenden Abiturprüfungen in Berlin und Brandenburg.
Ländervereinbarung 2020: Entnahmequote aus dem Pool
Im Rahmen der Ländervereinbarung von 2020 verständigten sich alle Bundesländer darauf, ab dem Abiturjahrgang 2023 mindestens 50 % der schriftlichen Prüfungsaufgaben in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und erster Fremdsprache aus dem gemeinsamen Pool zu entnehmen. Diese Regelung wird ab dem Prüfungsjahr 2025 auch auf die naturwissenschaftlichen Fächer ausgedehnt, so dass künftig die Hälfte der Aufgaben in Biologie, Chemie und Physik aus dem länderübergreifenden Bestand kommen muss.
Weitere Initiativen länderübergreifender Abi-Aufgaben
Bereits 2010 hatte eine Gruppe aus acht Bundesländern – Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg‑Vorpommern, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig‑Holstein – geplant, in ausgewählten Kernfächern ein sogenanntes „Länderabitur“ mit identischen Prüfungsaufgaben einzuführen.
Dieses Vorhaben zielte darauf ab, die Vergleichbarkeit der Abiturprüfungen schon regional über Landesgrenzen hinaus zu stärken; organisatorische Herausforderungen wie einheitliche Terminlegungen und Ferienzeiten stellten jedoch hohe Hürden dar.
Mit diesen Angeboten und Partnerschaften setzt die Politik erste Schritte hin zu mehr Vergleichbarkeit und Fairness in der Hochschulzugangsberechtigung, indem Aufgabenstellungen zentral entwickelt und verteilt werden.
Reformvorschläge

1. Ein bundesweit einheitliches Zentralabitur mit identischen Prüfungsaufgaben und Bewertungsmaßstäben könnte die Vergleichbarkeit der Abiturnoten zwischen den Bundesländern erheblich erhöhen und so Chancengleichheit schaffen. Obwohl die Kultusministerkonferenz bereits gemeinsame Bildungsstandards und einheitliche Vorgaben erarbeitet hat, bleiben föderale Zuständigkeiten und die praktische Umsetzung vollständiger Zentralprüfungen eine deutliche Hürde.
2. Anstelle des Numerus Clausus werden Eignungstests, strukturierte Auswahlgespräche und praxisorientierte Bewertungen diskutiert, um soziale Kompetenzen und Motivation der Bewerber stärker in den Vordergrund zu rücken.
Solche Verfahren ähneln den Multistage-Selection-Prozessen privater Hochschulen und renommierter Business Schools, die bereits mit Referaten, Gruppendiskussionen und Einzelgesprächen arbeiten, um ein ganzheitliches Bewerberprofil zu erfassen. In Deutschland hat die CSU-Fraktion in einer Resolution angeregt, den NC langfristig abzuschaffen und die Hochschulzulassung über eine Änderung des Staatsvertrags transparenter zu gestalten.
3. Zusätzlich könnte die Zulassung stärker auf Kriterien wie persönliche Kompetenzen, soziales Engagement, absolvierte Praktika oder Empfehlungsschreiben abzielen, wie es in den Ländern USA, Großbritannien oder den Niederlanden längst üblich ist.
Empfehlungs- und Motivationsschreiben sowie Nachweise zu außerschulischem Engagement ermöglichen eine ganzheitliche Beurteilung, die über reine Noten hinausgeht und individuelle Stärken sowie fachliche Interessen sichtbar macht.
Fazit
Die Diskussion um die Vergleichbarkeit des Abiturs und die Rolle des Numerus Clausus zeigt, wie komplex die Organisation von Bildung in einem föderalen System ist. Unterschiedliche Prüfungsanforderungen, Bewertungskulturen und Gestaltungsspielräume bei der Kurswahl führen dazu, dass Abiturnoten nicht überall unter den gleichen Bedingungen entstehen.Gleichzeitig ermöglicht der Föderalismus auch regionale Bildungsprofile und pädagogische Freiheit – Aspekte, die für viele ein wichtiger Teil des deutschen Bildungssystems sind. Die Herausforderung liegt darin, einerseits die Vielfalt der Bildungswege zu bewahren und gleichzeitig faire und nachvollziehbare Zugangsmöglichkeiten zu Hochschulen und Universitäten zu gewährleisten. Ob eine stärkere Angleichung der Abiturstandards oder alternative Zulassungsverfahren sinnvoll sind, bleibt eine bildungspolitische Debatte, die weitergeführt werden sollte.
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